Wir vergessen ständig Dinge.
Manchmal sind das Kleinigkeiten – in welcher Jackentasche der Autoschlüssel steckt, oder wo ich meine Brille abgelegt habe. Manchmal ist das unangenehm: „Ach, hatten wir heute Hochzeitstag?“ Und spätestens, wenn wir älter werden und das Gedächtnis immer mehr nachlässt, mag uns das irgendwann unheimlich werden.
Die meisten Dinge, die wir im Alltag vergessen, vermissen wir jedoch gar nicht. Es sind Erinnerungen, die leise wegrutschen, ohne dass wir das merken würden und ohne dass es uns stört. Oder wissen Sie noch, wie die stille Mitschülerin in der vorletzten Bankreihe hieß, an die Sie seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht haben? Da gibt es dann höchstens noch ein Aha und Oho, wenn wir einmal ein altes Foto hervorholen oder einen Tagebucheintrag lesen. Und dann kommt die Erinnerung – vielleicht – wieder. Manchmal nur ein bisschen und manchmal ganz lebendig.
Der Wochenspruch für die kommende Woche fordert uns auf, bestimmte Dinge ganz fest im Gedächtnis zu bewahren: „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“, heißt es in Psalm 103. Und dann kommt dort eine Kostprobe von guten Dingen, die Gott uns tut, „der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler…“
Ein Augenblick der Leichtigkeit, ein Nachlassen der Schmerzen, eine Begegnung, die mir Energie gibt und mich regelrecht verjüngt. All das sind Dinge, die wir im Moment genießen, die in unserer Erinnerung aber nicht unbedingt haften bleiben. Stattdessen setzt sich dort das Schwere und Schwierige fest. Das gilt gleichermaßen für die großen und die kleinen Dinge des Lebens: Was uns quält, steht uns deutlich vor Augen. Und selbst die größten Dinge, für die wir dankbar sein könnten, sehen wir dann gar nicht mehr.
So gesehen ist der Wochenspruch eine Anleitung für mehr Glücklichsein in unserem Leben. Genauso wie wir durch die Wohnung stolpern und grummeln: „Wo habe ich ihn denn hingelegt?“, wenn wir unseren Schlüssel suchen, sollen wir murmeln: „Was hat Gott mir alles Gutes getan?“, wenn wir durch unser Leben stolpern. Denn unsere Erinnerung braucht diesen Stupser und manchmal ist es wirklich ganz erstaunlich, was für gute und schöne Dinge zurück ans Tageslicht kommen, wenn wir uns nur die Zeit nehmen, einmal Innezuhalten.
Das kann passieren, wenn wir an einem der letzten sonnigen Nachmittage im Garten sitzen und den Blick über das Haus schweifen lassen, in dem wir unser Leben zugebracht haben. Das passiert im Gespräch mit alten Freunden und Wegbegleitern. Das geschieht vielleicht ja wirklich mit dem Fotoalbum in der Hand – oder mit der Bibel. Und das kann zu einer guten Übung werden, die meinem Leben mehr Fröhlichkeit gibt: Zum Beispiel, wenn ich jeden Abend vor dem Schlafengehen den Tag noch einmal Revue passieren lasse und das, wofür ich dankbar sein kann, vor Gott bringe.
Schon lange weiß die Psychologie, dass unsere Erinnerungen viel darüber sagen, wer wir sind und was wir von uns halten. Was zu unserem Selbstbild und unserer Stimmung passt, behalten wir im Gedächtnis. Alles andere verblasst. Besonders deutlich wird das an Kindheitserinnerungen. Wir erinnern uns vor allem an die Geschichten, die uns sagen: „Schon damals warst du der Klassenclown“, oder: „Schon damals hast du den Mund nie aufgekriegt“, je nachdem, wie wir uns heute sehen.
Die Bibel weiß, dass dieser Spieß sich auch umdrehen lässt: „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Schöne Erlebnisse bewusst festhalten und Gott dafür danken – das verändert unseren Ausblick aufs Leben und auf uns selbst. Es gibt Mut, Vertrauen und eine neue Ausgeglichenheit – und ist eine gute und notwendige Übung, um auch in den wirklich schweren Zeiten noch sagen zu können: „Lobe den HERRN, meine Seele, … der dir alle deine Sünde vergibt und … dein Leben vom Verderben erlöst“.
Ein waches und fröhliches Gedächtnis wünscht Ihnen
Ihr Vikar Konrad Otto